12
Jun
2007

Fischsuppe oder: "Nobody move! I dropped my brain ..."

Äh ... - Hä?
Möglicherweise, weil ich den zweiten Teil vor einem Jahr in der Originalfassung (Johnny lallend durch das Quitsch Quatsch Platsch von Schleim und Gischt) mit polnischen Untertiteln angeschaut habe: Nach wenigen Minuten "Pirates of the Caribbean: At World's End" hängt mich die Geschichte ab – Wer verrät hier eigentlich wen? Wie war das mit dem fliegenden Holländer? Und kam das mit den neun Lords nicht aus dem Herrn der Ringe? – und weil ich nicht auf kognitive Höchstleistungen vorbereitet bin, versuche ich später gar nicht mehr, sie einzuholen. Daraufhin passiert Folgendes: Oh, welch spaßiges Kinoerlebnis! Ich versinke willig im Sessel, ignoriere alle narrativen Haarsträubereien und lache mich durch eine fulminante Aufhäufung absurder Einzelszenen.
Über "Dead Man's Chest" las ich, der Film ähnele einer "Fischsuppe mit zu vielen Zutaten" (war's in der ZEIT?). Sehr zutreffend, durchaus auch auf die Fortsetzung. Auch hier Stoff für ein mindestens neunstündiges Epos, eingekocht auf knappe drei Stunden. Das wäre kaum auszuhalten ohne Jack Sparrow – "Nobody move! I dropped my brain ..." – den zynischen Egomanen mit dem Pokerface, Pirat mit Leib und Seele und am Ende doch weichherzig, todesmutiger Feigling, der stets alles auf eine Karte setzt, schlafwandlerisch, treulos, charmant, und völlig beziehungsunfähig. Die schlimmste Folter für ihn ist zugleich eine der besten Szenen des Films, in der der Käpt'n, verbannt im Niemandsland zwischen Leben und Tod, seiner Crew Disziplin einzubläuen versucht, die aus einer Horde halluzinierter und ausgesprochen renitenter Alter Ego besteht. Das Phänomenale an dieser Szene, die sich wie ein kleines surreales Filmkunstwerk in der Takelage verfangen hat, ist ihre Langsamkeit, das quälend gleißende Weiß ihrer Bilder, die klaustrophobische Atmosphäre, ein White Cube wie aus Jørgen Leths "Der perfekte Mensch". Endlich reduziert sich die überladene Ausstattung, das ewige Platschen der Wellen und das Wallen der Tentakel auf knochentrockenes Celluloid, auf salziges Licht und eine porenvergrößert abstoßende Nase, die sich in zeit- und raumloser Nahaufnahme einer Erdnuss entgegenschnüffelt. Weg mit der hochglanzkatalogoberflächigen Plastikwelt der Disney-Filme und her mit Materialität – hier ist eine Zunge ein glitschiges Fleischstück, der Schauspieler ein lebendiges Wesen und der Film ein visuelles Experiment.
Wie irritierend schön auch die lineare Handlung aus dem Ruder gerät, als Elisabeth Swann im Verlies mit dem anscheinend unter Gedächtnisschwäche leidenden Bootstrap Bill zweimal hintereinander ein nahezu identische Unterhaltung führt!
Ein besonderes Highlight ist auch die ironisch überhöhte „Parlay“-Begnung der verfeindeten Delegationen auf einer wüstenähnlichen Sandbank mitten im Ozean, nach allen Regeln der Western-Kunst als High Noon Event inszeniert, inklusive der unverkannbar an Ennio Morricone angelehnten musikalischen Untermalung. Kaum der Erwähnung wert die für aus der Geschichte ausgestiegene Anwesende eher sinnfreie Konversation.
Für das (vor allem weibliche) Zuschauerherz rettet den Film dann die aus dem Trailer bekannte überraschende Hochzeitszene – fast schon hätte man die Beziehung Will / Elisabeth für beendet erklärt –, die in einem kapitänsseitig autorisierten Kuss inmitten des Fisch-gegen-Mensch-Gemetzels auf dem gekaperten Schiff endet.
Man könnte all diesen kleinen oder großen Brüchen Methode unterstellen, dann wäre „At World's End“ großmütig betrachtet ein herrlich anarchischer Film, der die Regeln des Genres mit Wonne über Bord wirft. Gedanken werden nicht zu Ende gedacht, Charaktere nur skizziert und oft nur für einen einzelnen schwindelerregenden Auftritt ins Rennen geworfen, um danach nie wieder aufzutauchen (hübsch: Keith Richards sternschnupfenmäßig als Vater des Käpt'n Sparrow, gut für einen Lacher und ein freudiges Raunen im Publikum). Psychologische oder sonstige Deutungsmuster für das wankelmütige Verhalten der Hauptfiguren versagen. Erklärungsangebote gibt es nicht, denn so verschwenderisch wie sich Legenden und Mythen über die Leinwand ergießen, um die abstrusen Entwicklungen der Geschichte herbeifantasieren zu können, bleibt dafür gar keine Zeit. Und alles wird zusammengepappt durch lange und nicht besonders einfallsreiche Schlacht- und kollektive Jubelszenen.
Vielleicht treibt die komplizierte Handlung die DVD-Verkaufzahlen in die Höhe, weil verwirrte Kunden sich der Hoffnung hingeben, durch ein zweites oder drittes Anschauen der kompletten Trilogie zu verstehen, worum es eigentlich geht.

Und alle außer mir verließen den Kinosaal vor dem Ende des Abspanns – und verpassten die letzte
Szene!

Lesenswert dazu:
http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,484518,00.html
http://disney.go.com/disneypictures/pirates/
http://captainjacksblog.com/
Sommer sommer

gedacht, eigentlich

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